“Ergreifen Sie Gelegenheiten, wenn sie sich bieten”

01. November 2020

Sie sind seit 1999 Professorin für politische Theorie und Ideen Geschichte an der Universität Passau. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte liegt auf der antiken Philosophie, insbesondere der Staatstheorie Platons. Was fasziniert Sie am antiken Denken besonders? Und welche Relevanz sehen Sie dafür heute?

Was mich an der antiken Philosophie ganz besonders fasziniert, ist das Fundamentale dieses Denkens. Im platonischen Dialog werden grundlegende Denkmöglichkeiten durchdacht. Das heißt, dass nicht nur die Prämissen der untersuchten Meinungen und Theorien geprüft, sondern auch deren Konsequenzen reflektiert und die sich daraus ergebenden Widersprüche aufgezeigt werden. Bemerkenswert ist, dass die Grundmuster des antiken Denkens in der Geschichte immer wiederkehren: Zwar ändern sich die konkreten Inhalte, aber die Denkstrukturen bleiben immer dieselben. Wer sich mit der antiken Philosophie vertieft beschäftigt, ist mit diesen Denkstrukturen vertraut und erkennt sie auch in allen ihren geschichtlichen Gestalten wieder. Nicht zuletzt daraus erklärt sich die Relevanz dieser Philosophie für die Gegenwart. Außerdem finde ich es beeindruckend, wie sehr das platonische Denken den Menschen in seiner Gesamtheit erfasst. Die Prüfung von Prämissen, die kritische Analyse der Konsistenz des Denkens muss bei einem selbst anfangen. Dann wird einem auch die ideologische Befangenheit bewusst, in der man sich selbst oft befindet. Zur Wahrheit gelangt man also nur durch die Überwindung des Irrtums – in dem man seine Denkmuster kritisch reflektiert und diese auch aufbricht.

In ihrem wissenschaftlichen Werdegang sticht ihre Habilitationsschrift besonders hervor. Sie waren die Erste, die Hitlers „Mein Kampf“ wissenschaftlich untersucht und kommentierte. Wie kam es zu diesem vergleichsweise ungewöhnlichen Thema?

Seit meiner Kindheit habe ich mich gefragt, wie es zum Holocaust hatte kommen können. Ich konnte das überhaupt nicht begreifen! Die NS–Zeit hing wie ein dunkler Schatten über meiner Kindheit und Jugend. Weil mein Großvater früher in einem kommunistischen Gesangsverein war, war er in der NS-Zeit besonders um Unauffälligkeit bemüht und besaß, allerdings auch bedingt durch seine Tätigkeit als Betriebsleiter, gleich mehrere Exemplare von „Mein Kampf“. Dadurch bekam ich Zugang zu diesem Buch und begann es – als Schulkind (!) – zu lesen. Damals war ich aber noch viel zu jung, um es zu wirklich verstehen zu können. Den Plan, Hitlers Autobiografie zu untersuchen, um die mich bedrängende Frage nach der Ursache des Judendmordes zu klären, habe ich aber nie aufgegeben. Als meine Habilitation anstand, hatte ich den Eindruck, nun die nötige Reife und Lebenserfahrung zu haben, um mich dieser ja auch existenziell fordernden Aufgabe stellen zu können. Zudem hatte ich mich inzwischen so intensiv mit dem platonischen Denken befasst, dass ich glaubte, das intellektuelle Rüstzeug erworben zu haben, um mich systematisch und kritisch mit ideologischem Denken auseinandersetzen zu können. Ich bin meinem damaligen Chef an der Universität der Bundeswehr noch heute sehr dankbar, dass er es mir ermöglicht hat, mich über dieses Thema zu habilitieren!

Welches war Ihrer Meinung nach die größte Herausforderung Ihrer wissenschaftlichen Laufbahn? Und wie haben Sie diese gemeistert?

Die größte Herausforderung war mit Abstand die Zeit nach der Promotion. Ich bekam nirgendwo eine Stelle. Das Gefühl, dass sich keiner für mich und meine Arbeit interessiert, war schwer zu verkraften. Ich musste versuchen nicht aufzugeben und übersetzte während dieser schwierigen Zeit dann Platon. Diese Phase endete, als mir ein Professor das Angebot machte, die Federalist Papers zu übersetzen. Ich war darüber sehr froh, da ich die Auseinandersetzung mit diesem amerikanischen Grundlagentext der politischen Theorie äußerst interessant fand. Später bekam ich dann bei diesem Professor eine Mitarbeiter– und anschließend eine Assistentenstelle. Ich landete im Bereich Politikwissenschaft, obwohl ich eigentlich Philosophin war. Auch wenn ich einen derartigen Weg nie vor Augen gehabt hatte, war das ein großer Glücksfall für mich! Aufgrund dieser Erfahrung würde ich NachwuchswissenschaftlerInnen den Tipp geben: Wenn Sie sich wirklich für die Wissenschaft berufen fühlen, sollten Sie sich nicht zu sehr auf einen bestimmten Weg dorthin fixieren, sondern sich immer Ihre Offenheit bewahren. In der Wissenschaft ist es schließlich nicht immer leicht, etwas zu planen. Ergreifen Sie daher Gelegenheiten, wenn sie sich Ihnen bieten – auch wenn diese vielleicht nicht direkt zu Ihrem Fachgebiet zu passen scheinen.

Als Professorin übernehmen sie mit Lehre, Forschung und universitäre Administration einen großen Aufgabenbereich. Darüber hinaus sind sie Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Mitherausgeberin der „Zeitschrift für Politik“ und Vertrauensdozentin der Studienstiftung. Wie bekommen Sie all diese Verpflichtungen unter einen Hut?

Das ist eine gute Frage! Als Professorin ist mein Arbeitsalltag insgesamt sehr fragmentiert. Man darf nicht unterschätzen, wie viel Zeit alleine die administrativen Aufgaben in Gremien oder Ähnliches beanspruchen. Mein heutiger Arbeitsalltag steht also im diametralen Gegensatz zu meiner Promotions- und Habilphase, in denen ich mich voll und ganz einem Thema widmen und dieses in seiner Gesamtheit und Komplexität untersuchen konnte. Rückblickend betrachtet waren dies sehr glückliche Zeiten, an die ich sehr gerne zurück denke! Ich schreibe viele Aufsätze und halte viele Vorträge, um den Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis aufrechtzuerhalten. Aber die Zeit, ganze Bücher zu verfassen, werde ich wohl erst nach meiner Pensionierung haben. Die Entwicklung an den Universitäten in den letzten Jahren betrachte ich übrigens mit Sorge. Denn heutzutage wird von Professoren erwartet, so viele Drittmittel wie möglich einzuwerben und die eigene Sichtbarkeit permanent zu optimieren. Sich auch einmal zurückzuziehen, um sich voll und ganz auf seine Arbeit, insbesondere auf das Schreiben, zu konzentrieren, ist daher nicht einfach. Die bloße Quantifizierung von akademischen Leistungen und die damit einhergehende Ökonomisierung der Wissenschaft beurteile ich daher sehr skeptisch. Um Ihre Frage also zu beantworten: Alle Aufgaben gleichzeitig zu meistern, stellt einen herausfordernden Balanceakt dar.

Die Wissenschaft ist heute noch überwiegend männlich geprägt. Nur 24% der Professuren in Deutschland sind von Frauen besetzt. Welche sind Ihrer Ansicht nach die Gründe für dieses Ungleichgewicht?

Es gibt sicherlich mehrere Gründe, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Ich war damals die einzige Frau in meiner Studiengruppe, die Professorin werden wollte. Seit meinem 14. Lebensjahr hatte ich den Wunsch, die Philosophie zu meinem Hauptberuf zu machen. Ich liebte dieses Fach so sehr, dass für mich nichts anderes in Frage kam. Meine damaligen Kommilitoninnen zogen eine akademische Laufbahn jedoch gar nicht in Betracht, ein paar meiner Kommilitonen dagegen schon. Ich glaube, dass Frauen mehr Selbstzweifel haben als Männer. Ich spreche da auch aus eigener Erfahrung: Als ich mich damals auf Professuren bewarb, konnten meine männlichen Kollegen gar nicht nachvollziehen, wieso ich an meiner Kompetenz zweifelte – ein Gefühl, das ihnen ganz offensichtlich fremd war. Diese Zweifel lösten sich aber zum größten Teil auf, als ich direkt nach meiner Habilitation den Ruf bekam und meine Kompetenz praktisch erproben und erweitern konnte. Ich glaube, viele Frauen haben ein geringeres Selbstvertrauen als Männer. Andererseits beobachte ich in der jüngeren Generation, dass einige Frauen sich durchaus mit einer sehr ausgeprägten Ellbogen-Mentalität durchsetzen – auch anderen Frauen gegenüber. Dies ist meines Erachtens ein wichtiger Punkt, den man ebenfalls berücksichtigen sollte: Es sind oft Frauen, die sich anderen Frauen gegenüber sehr unkollegial verhalten! In Auswahlgremien habe ich schon oft die Beobachtung gemacht, dass Frauen gegenüber den weiblichen Kandidaten viel kritischer sind als gegenüber den männlichen. Auch solche Verhaltensmuster müssten sich ändern, um dem Ungleichgewicht entgegenzuwirken.