“Finden Sie Ihre eigene Balance aus Interesse und Strategie”

17. November 2020

Sie sind aktuell Akademische Rätin am Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Passau und waren davor Akademische Rätin an der Universität Göttingen. Welche Eigenschaften sind für solch eine Ratsstelle zentral?

Eine (nach Probezeit) unbefristete Ratsstelle (wie ich sie jetzt in Passau habe) zeichnet sich durch ein recht hohes Lehrdeputat von 18 Stunden pro Woche aus. Ganz zentral ist also, viel Freude an der Lehre und damit auch an der Arbeit mit Studierenden zu haben. Die Akademische Ratsstelle in Göttingen war eine Stelle auf Zeit und eine Qualifikationsstelle, d.h. sie war mit einem deutlich geringeren Lehrdeputat verbunden, dafür aber eben befristet.

Nebenbei habilitieren Sie noch. Wie bekommen Sie Lehre, administrative Lehrstuhlaufgaben und Ihre Habilitationsschrift unter einen Hut?

Ich mache momentan von “familienpolitischer Teilzeit” Gebrauch und damit habe ich ein reduziertes Lehrdeputat. Als Mutter von zwei Kindern kann ich so Familie und Stelle gut vereinbaren und mich nebenbei auch noch meiner Habilitationsschrift widmen. Diese begann ich bereits während meiner Zeit an der Universität Göttingen. Um mich aber voll und ganz auf meine Habil zu konzentrieren, beantrage ich gerade eine “Eigene Stelle” bei der DFG. Im Falle eine Genehmigung werde ich von meiner Stelle als Akademische Rätin beurlaubt und kann mich dann komplett auf die Vollendung meiner Habil fokussieren.

Sie haben auch einige wissenschaftliche Erfahrungen im Ausland gesammelt. Sie waren zum Beispiel als Visiting Scholar an der Columbia University in New York und später als Research Fellow an der University of London. Inwiefern unterscheiden sich das deutsche, das englische und das amerikanische Wissenschaftssystem?

Es gibt einige signifikante Unterschiede. Zum einen promoviert man in den USA und in England ja meist in strukturierten Doktorandenprogrammen und deutlich länger als z.B. als Promotionsstipendiat*in Deutschland. Ferner kann man in Deutschland ja auch auf einer Mitarbeiter*innenstelle an der Universität promovieren—das ist weder in den USA noch in England üblich. Darüber hinaus ist in den USA und England die Post-Doc-Phase von zentraler Bedeutung: in dieser Zeit schreibt man meist seine auf der Dissertation basierende Monographie (und diverse auf der Dissertation basierende Paper) fertig und versucht, diese bei einem angesehenen Verlag zu veröffentlichen (es ist übrigens gar nicht so einfach, einen Vertrag mit einem solchen Verlag zu bekommen—auch das unterscheidet sich deutlich vom deutschen Markt). Zum anderen hat man in den USA und in England schon zu einem früheren Zeitpunkt Aussicht auf eine dauerhafte Stelle. Nach der Promotion (und 1-2 jährigen Postdoc-Phase) bekommt man in den USA im Idealfall eine Stelle als Assistant Professor. Diese beinhaltet in den meisten Fällen die Perspektive auf eine dauerhafte Stelle, wenn es sich zugleich um eine Tenure-Track-Professur handelt. In England hat man die Möglichkeit, nach der Promotion eine Lecturer Stelle zu erhalten, die ebenfalls perspektivisch unbefristet ist. Im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern erhält man in Deutschland üblicherweise erst mit einer Professur und damit deutlich später eine unbefristete Stelle. Alternativ dazu kann man sich zwar nach der Promotion auch auf eine Ratsstelle – wie ich sie innehabe – bewerben. Diese sind aber sehr rar. Trotz allem darf man aber nicht vergessen, dass es in Deutschland attraktive Programme gibt, in denen Nachwuchswissenschaftler*innen ihre Fähigkeiten in der Post-Doc- Phase substantiell ausbauen können. Zu nennen sind zum Beispiel die “Eigene Stelle” der DFG oder auch die Aufnahme in das Emmy-Noether-Programm.

Welche Unterschiede gibt es in Hinblick auf die Lehre?

An den sehr exklusiven Universitäten in den USA und in England sind die Seminare natürlich deutlich kleiner als in Deutschland. Ich habe in diesen Ländern zwar selbst nicht gelehrt, aber ich habe von anderen mitbekommen, dass die Studierenden dort eine höhere Anspruchshaltung an das Studium haben. Dies ist zum großen Teil den hohen Studiengebühren dort geschuldet. Die Studierenden erwarten also generell mehr von den Dozierenden und haben auch höhere Erwartungen an die Betreuung. Ein weiterer Unterschied besteht in dem Literaturumfang der Seminare: ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Studierenden in den USA und in England deutlich mehr lesen und mehr Literatur durcharbeiten als in Deutschland.

Sie haben mit Kultursoziologie, Emotionssoziologie, Migrationssoziologie und politischer Soziologie ein recht breites Forschungsprofil. Wie genau haben Sie dieses Profil aufgebaut?

Ich habe mein Profil sehr interessengeleitet bestimmt. Meine Schwerpunkte hängen außerdem alle stark zusammen, sodass sich die einzelnen Themenbereiche gut ergänzen und sich teils auch überschneiden. Man kann aber auch komplett strategisch vorgehen und sich an den ausgeschriebenen Professuren orientieren. Immer gesucht werden zum Beispiel Soziologieprofessuren mit dem Schwerpunkt soziale Ungleichheit oder Theorie. Auf so einem Gebiet könnte man sich also spezialisieren, um später realistischere Chancen auf einen Ruf zu haben. Jedoch verfolgen die wenigsten Wissenschaftler*innen einen rein strategischen Ansatz. Es ist aber sicherlich von Vorteil, während der Post-Doc-Phase bzw. der Habilitation ein paar strategische Überlegungen zu unternehmen und zu analysieren, was auf dem Markt besonders gefragt sind. An dieser Nachfrage kann man sich dann – wenn man möchte – bis zu einem gewissen Grad orientieren. Da es jedoch kein allgemein gültiges Patentrezept gibt, muss jede Wissenschaftlerin ihren eigenen Weg und damit auch ihre eigene Balance aus Interesse und Strategie finden.

Ihr Mann hat vor kurzem einen Ruf bekommen und Sie haben zwei Kinder. Wie haben Sie beide als Wissenschaftspaar Familie und Beruf vereinbart?

Ich habe bei beiden Kindern Elternzeit genommen, aber war währenddessen weiter wissenschaftlich tätig. In diesen Zeiten suchten wir uns Unterstützung bei der Kinderbetreuung – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Familienkreises (wir hatten z.B. für die Dauer von zwei Jahren die Unterstützung von Au-Pairs). Generell war für meinen Mann und mich immer klar, dass wir uns die Erziehung grundsätzlich aufteilen. Und wir haben uns immer gemeinsam überlegt, wie wir Familie und Wissenschaft am besten organisieren können. Hier ist auch eine große Portion Flexibilität gefragt: Wenn einer von uns zum Beispiel eine wichtige Deadline hatte, dann hat der andere sich zu dieser Zeit mehr um die Kinder gekümmert und seinen Arbeitsalltag entsprechend ausgerichtet. Wir haben uns gegenseitig in unseren Zielen immer unterstützt und überlegt, welcher Schritt gut für uns beide wäre. So sind wir zum Beispiel mehrmals gemeinsam ins Ausland gegangen – auch noch als junge Eltern (damals nach UK). Wenn ich unsere jetzige Situation reflektiere, ist mir aber auch bewusst, dass Anstrengung, Planung und Flexibilität nicht alles sind. Am Ende des Tages hatten wir auch einfach großes Glück: aufgrund eines Dual-Career- Angebots der Universität Passau können wir jetzt als Familie an einem Ort leben und haben beide eine dauerhafte Stelle – das ist einfach wunderbar!